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Warum war der Verdächtige von Aschaffenburg noch frei?


24.01.2025 - 12:02 Uhr


Ein ausreisepflichtiger, gewalttätiger und offensichtlich psychisch kranker Geflüchteter greift in einem Park in Aschaffenburg eine Kindergartengruppe mit einem Küchenmesser an. Er tötet ein Kleinkind und einen zur Hilfe eilenden Passanten, verletzt weitere Menschen teils schwer. Hätte das verhindert werden können?

Mitten im Bundestagswahlkampf wirft die CSU-geführte bayerische Staatsregierung der SPD-geführten Bundesregierung mangelnde Härte im Umgang mit unerlaubt eingereisten Geflüchteten vor. Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) sprechen von einem Defizit der bayerischen Behörden, geltendes Recht umzusetzen. Doch warum war der Mann noch in Deutschland und auf freiem Fuß? Die Suche nach Antworten führt in viele Behörden.

Warum wurde der Verdächtige nicht abgeschoben?

Bisher hat sich zu dieser Frage vor allem Bayerns Innenminister Joachim Herrmann geäußert. Laut dem CSU-Politiker hätte der Ende 2022 nach Deutschland eingereiste Afghane eigentlich schon im Jahr 2023 nach Bulgarien abgeschoben werden sollen. Das Regelwerk des sogenannten Dublin-Verfahrens sieht nämlich unter anderem vor, dass Asylverfahren in der Regel dort bearbeitet werden, wo Geflüchtete zum ersten Mal EU-Boden betreten.

Gescheitert sei die Abschiebung aber an einer abgelaufenen Frist, sagt Herrmann. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) habe zwar den Afghanen selbst nach Ablehnung seines Asylantrags am 19. Juni 2023 über die angeordnete Abschiebung informiert, die bayerischen Ausländerbehörden aber «aufgrund welcher Fehler und Probleme auch immer» erst am 26. Juli in Kenntnis gesetzt - wenige Tage vor Ablauf der gesetzlichen Frist.

Diese sind für den Vollzug der Abschiebung zuständig, wussten laut Herrmann durch den Verzug aber zu spät davon. So schnell hätten die Behörden eine Abschiebung nach Bulgarien ohne Vorbereitung «offenkundig» dann nicht mehr umsetzen können.

Aus Regierungskreisen verlautete, das Bamf habe die bayerischen Behörden zwar sehr wohl zeitgleich mit dem Afghanen vorläufig über die Überstellung nach Bulgarien informiert. Der rechtskräftige Bescheid sei aber tatsächlich erst mehr als einen Monat später und damit kurz vor Ablauf der Frist verschickt worden. Die lief demnach schon seit 3. Februar 2023. Damals hatte Bulgarien der Überstellung des Afghanen nach dem Dublin-Verfahren nämlich zugestimmt - binnen sechs Monaten erfolgte die aber letztlich nicht.

Warum ist der Mann nicht selbst nach Afghanistan ausgereist?

Diese Absicht hatte der 28-Jährige den Behörden zwar im Dezember 2024 laut Herrmann kundgetan - auch schriftlich. Aber für die Reise zurück nach Afghanistan brauchte er entsprechende gültige Papiere - und die hatte der Mann laut Herrmann wohl bis zum Tag des Angriffs in Aschaffenburg vom Generalkonsulat seines Heimatlandes nicht bekommen.

Zur Ausreise verpflichtet war der Afghane auch nur wegen seiner Ankündigung, «schnellstmöglich» in seine Heimat zurückzuwollen. Damit war das beim Bamf nach der gescheiterten Abschiebung laufende Asylverfahren beendet worden. Eine Frist, bis wann der Mann Deutschland nach seiner Ankündigung hätte freiwillig verlassen müssen, gab es laut bayerischem Innenministerium nicht.

War der 28-Jährige Polizei und Justiz schon vor dem Angriff bekannt?

Ja - und zwar wegen zahlreicher Vorfälle:

4. März 2023: In einer großen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge kommt es zu einem Vorfall, in dessen Folge der Afghane vom Amtsgericht Schweinfurt einen Strafbefehl wegen Körperverletzung und eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen erhält.

18. Januar 2024: Der Mann beschädigt in einer Flüchtlingsunterkunft mutmaßlich ein Zeiterfassungssystem. Nachdem er zu zwei Gerichtsterminen 2024 nicht geladen werden kann, wird der Prozess für Februar 2025 geplant.

12. Februar 2024: Er ist mit einem falschen Fahrschein in einem Zug unterwegs und bekommt darum später vom Amtsgericht Aschaffenburg einen Strafbefehl wegen versuchten Betrugs und eine weitere Geldstrafe von 15 Tagessätzen.

12. Mai 2024: Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Aschaffenburg kommt er an diesem Tag - wohl unter dem Einfluss von Cannabis - auf das Bundespolizeirevier in Aschaffenburg und gibt an, Hilfe zu brauchen. Doch dann kommt es den Angaben zufolge mutmaßlich zu «Tätlichkeiten gegen Beamte», bei denen drei Polizisten verletzt werden.

6. Juni 2024: Am Hauptbahnhof in Aschaffenburg zieht der Mann sich vor zwei Polizisten an einem Bahnsteig komplett aus und beschädigt mutmaßlich einen Streugutbehälter.

2. August 2024: Der Beschuldigte randaliert mutmaßlich in Alzenau bei Aschaffenburg und beschädigt ein Auto. Als die Polizei eintrifft, schlägt er immer wieder den Kopf auf den Boden - und tritt auf dem Weg in die Klinik später mutmaßlich Rettungssanitäter und Polizeibeamte.

Sowohl nach dem Vorfall im Mai 2024 als auch nach dem im August wird er nach Angaben der Staatsanwaltschaft vorübergehend polizeilich in einer Psychiatrie untergebracht. Ermittlungen wegen tätlicher Angriffe und Widerstands gegen Polizisten, vorsätzlicher Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung laufen noch.

Abschließen können habe man das Verfahren wegen der beiden Fälle bisher aber nicht, teilt die Staatsanwaltschaft Aschaffenburg mit. Die Ermittler hätten nämlich ein psychiatrisches Expertengutachten angefordert. Dieser Auftrag sei aber zunächst ausgesetzt worden, nachdem klar wurde, dass der Mann ohnehin nach Afghanistan zurückwill.

Wie das Amtsgericht Schweinfurt mitteilt, wurde der Mann außerdem am 18. Januar 2024 im Bezirkskrankenhaus Werneck polizeilich untergebracht. Darüber hinaus geht die Aschaffenburger Staatsanwaltschaft inzwischen den Aussagen einer Zeugin nach, wonach der Mann eine Bewohnerin einer Flüchtlingsunterkunft in Alzenau mit einem Messer verletzt haben soll.

Warum wurde er immer wieder aus der Psychiatrie entlassen?

In keinem der Verfahren seien die Voraussetzungen für eine strafrechtliche einstweilige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gegeben gewesen, teilt die Staatsanwaltschaft mit - auch nicht für einen Haftbefehl.

Für die zwangsweise Unterbringung in einer Psychiatrie gelten zudem hohe gesetzliche Hürden. Gefährdet der oder die Betroffene durch sein Verhalten sich selbst oder andere Menschen, darf sie nur angeordnet werden, wenn die Gefahr nicht durch weniger einschneidende Mittel abgewendet werden kann.

Ein milderes Mittel wäre etwa Hilfe durch einen Krisendienst oder einen gesetzlichen Betreuer. Der mutmaßliche Angreifer von Aschaffenburg hatte eine solche Betreuerin im Dezember 2024 gerichtlich verordnet bekommen - aber nie Kontakt zu ihr aufgenommen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigt nach dem Angriff in Aschaffenburg an, das Bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz, in dem auch die Bedingungen für eine Unterbringung geregelt sind, «härten» zu wollen.

Hätte er nicht im Gefängnis sitzen müssen?

Wie mehrere Medien berichten, hätte der Mann - weil er die gegen ihn verhängten Geldstrafen nicht zahlte - ersatzweise in Haft gesollt. Eine Antwort der Behörden auf diese Frage stand zunächst noch aus.

Was passiert jetzt mit dem Mann?

Eine Ermittlungsrichterin hat für den Verdächtigen nach Anhörung eines psychiatrischen Sachverständigen einen Unterbringungsbefehl erlassen. Die Vorwürfe lauten bisher auf zweifachen Mord, zweifachen Mordversuch sowie gefährliche Körperverletzung.

Der Verdächtige befindet sich inzwischen in einer psychiatrischen Einrichtung. Einen Unterbringungsbefehl gibt es in der Regel, wenn es Anhaltspunkte gibt, dass ein Verdächtiger zur Tatzeit aufgrund einer psychischen Erkrankung schuldunfähig und vermindert schuldfähig war.

Sollte sich das herausstellen, dürfte sich ein sogenanntes Sicherungsverfahren vor Gericht anschließen. Dabei geht es um die zeitlich unbegrenzte Unterbringung eines Beschuldigten in einer geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses. Auch wenn es keine Anklage wie in einem normalen Strafverfahren gibt, wird solch ein Fall vor Gericht verhandelt.

© dpa-infocom, dpa:250124-930-354076/1

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