Nicolaus Blättermann hat den Holocaust überlebt. 80 Jahre nach der Befreiung des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz sitzt der 104-Jährige in der Neuen Synagoge in Mainz und berichtet, wie er die jüdische Gemeinde in Bad Kreuznach mit aufgebaut und dort aus einer Kirchenkapelle der US-Army eine Synagoge gemacht hat. Ihm gegenüber sitzt bei der Holocaust-Gedenkveranstaltung des rheinland-pfälzischen Landtags die junge Julia Panasyuk, die ihn aus Bad Kreuznach kennt und nun in Mainz studiert und lebt und Teil der dortigen jüdischen Gemeinde ist. Sie berichtet, wie sie während eines Aufenthalts in Israel den Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 erlebt hat, wie sie sich nach ihrer Rückkehr in Deutschland Solidarität gewünscht hätte und wie es sie bedrückt hat, dass die israelische Flagge vor dem Stadthaus in Mainz angezündet wurde. Allein diese beiden Geschichten von Menschen aus unterschiedlichen Generationen schaffen eine Verbindung zwischen den Verbrechen der Nazis und der Ablehnung, denen Jüdinnen und Juden und andere Gruppen im heutigen Deutschland ausgesetzt sind - ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus zieht. Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD) würdigt in seiner Rede Überlebende wie Blättermann, die Kraft und Mut gefunden hätten, «uns von der Hölle» zu berichten. «Jetzt aber sind nur noch wenige von ihnen da», sagte Hering weiter. «Deshalb werden und wollen wir die Erinnerung stärker als bisher in die eigenen Hände nehmen. Wir müssen erwachsen werden.» Noch heute zeige sich in Deutschland Blind- und Taubheit für so vieles, was vor und nach 1945 bittere Realität gewesen sei, die Verleugnung eigener Schuld und die damit fortdauernde Demütigung der Opfer, mahnte der Landtagspräsident. Als vor einem Jahr das Wort Remigration gefallen sei, seien Hunderttausende in Deutschland auf die Straße gegangen. Heute werde der Begriff selbstbewusst von einer Partei im Wahlkampf verwendet. Zur bitteren Realität in Deutschland gehört, dass die Anerkennung von Opfergruppen des NS-Regimes lange gedauert hat. Das greifen die drei Schülerinnen Janka (15), Ida (14) und die 18-jährige Stella Sophie während der Gedenkveranstaltung in einem im Mainzer Staatstheater erarbeiteten Stück namens «Gestern - Heute - Morgen. Dokumentation einer Suche» auf. Die Drei haben für das etwa zehnminütige Stück unter anderem Nachrichtentexte über antisemitische Gewalttaten bis in die Gegenwart gelesen, Filme geschaut, einen Blick in Studien geworfen, mit Zeitzeugen gesprochen. Sie spannen einen Bogen vom Worms des Jahres 1937 bis zu einem Brandanschlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum 2023. An einer Stelle sagt Stella Sophie: «Ja, ich habe gelogen und gesagt, dass mir die heutige Diskriminierung nicht bewusst war, aber das stimmt nicht.» Sie wisse es, wenn ihr auffalle, dass Begriffe, die heute verwendet würden, von den Nazis stammen. Sie wisse es, wenn sie erfahre, dass manche Opfergruppen des Holocausts noch immer nicht anerkannt seien und sie wisse es, «wenn die Tische in der Schule mit Hakenkreuzen beschmiert sind». Ministerpräsident Alexander Schweitzer (SPD) macht antisemitische Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft aus, in allen sozialen Schichten, kulturellen und politischen Szenen. «Es kann kein Ende geben des Gedenkens», mahnte er in dem in Gold- und Sandtönen gehaltenen Betraum der Neuen Synagoge. «Der Antisemitismus versteckt sich nicht mehr.» Vielmehr werde er salonfähig, es sei eine schleichende Normalisierung zu beobachten. Es dürfe nicht mehr weggeschaut oder geschwiegen werden. Dass ausgerechnet kurz vor dem 27. Januar ein «amerikanischer Oligarch» dazu aufrufe, mit dem Gedenken aufzuhören, sei ein Angriff auf den demokratischen Konsens, sagte er und zielte damit auf Elon Musk ab, Vertrauter des US-Präsidenten Donald Trump. Musk hatte in einer Video-Botschaft bei einer AfD-Wahlkampfveranstaltung bemängelt, dass Deutschland «zu viel Fokus auf vergangene Schuld» lege. Der Autor und Publizist Ronen Steinke prangert in Mainz die zu Zeiten der Nationalsozialisten vorherrschende Feigheit vieler Deutscher an, dabei hätte es noch nicht einmal viel Mut erfordert, nicht mitzumachen beim Massenmord an Zivilisten, Frauen und Kindern. Vielen Menschen habe es eklatant an Rückgrat gefehlt, so Steinke. Zu Rückgrat gehöre auch, der Versuchung oder Verlockung zu widerstehen, im Gefühle eigener Schwäche auf noch Schwächere einzutreten, sie als Sündenbock auszumachen. Heutzutage bauten auch im rheinland-pfälzischen Landtag einige auf genau diese Verlockung. In dem Theaterstück der Schülerinnen heißt es gegen Ende, wenn gegen Minderheiten gehetzt, Menschen wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion, sexuellen Orientierung oder Identität, aufgrund einer Krankheit oder Behinderung oder wegen ihrer Armut diskriminiert würden, liege es an jedem, sich dagegenzustellen, etwas zu sagen. «Gedenken ist nicht nur ein Substantiv. Gedenken ist ein Verb. Ein Verb, das die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft verbindet.» Die Schülerin Stella Sophie wird bei der Bundestagswahl Erstwählerin sein. In einem Gespräch am Rande der Proben sagt sie, dass ihr der Blick in die Zukunft Angst mache. Sie frage sich, wie es mit der Demokratie weitergeht.Landtagspräsident: «Wir müssen erwachsen werden»
Wenn Tische in Schulen mit Hakenkreuzen beschmiert sind
Schweitzer kritisiert Musk-Aussagen
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